Mit Reallaboren eine nachhaltige Zukunft gemeinsam gestalten

Eine Transformation unserer Gesellschaft in Richtung Nachhaltigkeit ist dringend notwendig. Aktuell sind hierzu Reallabore in aller Munde. Was dahinter steckt, welche Rolle die Wissenschaft spielt und wie so ein Labor aussehen kann, stelle ich hier vor.
Eine Postkarte mit der Aufschrift "Mach mit!" ist an einen Metallzaun gebunden. Darunter steht "Gestalte deine, unsere Zukunft." Das KIT ist darauf gezeichnet.Forschungsgruppe Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Transformation/ITAS

Unsere Gesellschaft steht vor einem Wendepunkt. Unsere Lebensweise hat sich als nicht nachhaltig erwiesen und zu Klimawandel, Artensterben, sozialen Ungleichheiten und vielen weiteren Herausforderungen geführt. Wissenschaftler:innen, NGOs, die Fridays for Future-Bewegung und viele mehr fordern daher ein rasches Umdenken und eine Transformation zu alternativen, nachhaltigen Lebens-, Arbeits- und Wirtschaftsformen.

Aber wie können wir solche Veränderungsprozesse anstoßen und dabei möglichst viele Leute mitnehmen? Genau hier setzen sogenannte „Reallabore“ an. Sie bieten einen lokalen Rahmen, in dem nachhaltige Ideen wissenschaftlich begleitet, entwickelt, im Alltag erprobt und umgesetzt werden können. Wissenschaftler:innen, Hochschulen, Kommunen, Vereine, Verbände und viele mehr schließen sich unter dem Leitbild Nachhaltiger Entwicklung in Reallaboren zusammen, um praktisch zu erproben und zu erforschen, wie es anders gehen kann.

„Reallabore“ und „Reallaborforschung“ sind noch junge Konzepte und stehen in der Tradition der Aktions-und Interventionsforschung. Planen, Handeln, Beobachten und Reflektieren sind wesentliche Schritte, die in jedem Reallabor immer wieder zum Einsatz kommen. Zudem steht das Durchführen im Fokus und Reallabore schaffen Raum für Experimente.

Mit dem „Quartier Zukunft – Labor Stadt“ gibt es in der Karlsruher Oststadt ein solches Nachhaltigkeits-Reallabor der ersten Stunde.

Das Karlsruher Reallabor Quartier Zukunft

2012 begann sich am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) des KIT eine interdisziplinäre Gruppe von Forscher:innen rund um Dr. Oliver Parodi zu formieren und eines der ersten Reallabore in Deutschland, das „Quartier Zukunft“, ins Rollen zu bringen. Seit 2014 ist das Projekt in der Oststadt aktiv, ein Jahr später eröffnete der „Zukunftsraum für Nachhaltigkeit und Wissenschaft“, der Quartiersbüro, Wissenschaftsladen, Arbeitsort und Treffpunkt für Wissenschaftler:innen und aktive Bürger:innen in einem ist. Über die Jahre ist das Reallabor gewachsen und inzwischen auch über die Oststadt hinaus aktiv.

Der Zukunftsraum des Quartier Zukunft. Man sieht große Schaufenster, auf denen steht: Für Nachhaltigkeit & Wissenschaft.
Der Zukunftsraum für Nachhaltigkeit und Wissenschaft.
(Bild: Forschungsgruppe Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Transformation/ITAS)

Im Quartier Zukunft führt das wissenschaftliche Team eine Vielzahl von Projekten und Experimenten gemeinsam mit Bürger:innen, Wissenschaftler:innen und weiteren lokalen Akteuren durch. Im Mittelpunkt steht dabei die Mitgestaltung der eigenen Lebenswelt im Quartier.

Drei Bilder nebeneinander. Sie zeigen verschiedene Formate im Reallabor, bei denen Menschen zusammensitzen und diskutieren.
Verschiedene Formate im Reallabor.
(Bild: Forschungsgruppe Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Transformation/ITAS)

Um die zivilgesellschaftlichen Akteure zu erreichen, wird auf ein exploratives Vorgehen und einen Mix aus verschiedenen Formaten gesetzt. So finden niedrigschwellige Mitmach-Formate wie etwa Kleider- und Pflanzentauschbörsen, Diskussionsrunden und Workshops genauso ihren Platz wie Lehrveranstaltungen, wissenschaftlich begleitete Selbstexperimente oder inter- und transdisziplinäre Teilprojekte zu einzelnen Nachhaltigkeitsaspekten.

Aktivitäten im Reallabor Quartier Zukunft beispielhaft an vier Formaten dargestellt
Bild: Forschungsgruppe Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Transformation ITAS/KIT

Was macht ein Reallabor aus?

Eine einheitliche Definition des Begriffs Reallabor wird aktuell noch in der Wissenschaft diskutiert. Das Quartier Zukunft-Team hat im Zuge seiner transdisziplinären Arbeit folgende Definition entwickelt:

„Ein Reallabor bezeichnet eine transdisziplinäre Forschungs- und  Entwicklungseinrichtung,  um in einem räumlich abgegrenzten gesellschaftlichen Kontext Nachhaltigkeitsexperimente durchzuführen, um Transformationsprozesse anzustoßen und um entsprechende wissenschaftliche wie gesellschaftliche Lernprozesse zu verstetigen“  (Parodi et al. 2016, S.16).

Das lässt sich anhand von neun Reallabor-Charakteristika konkreter fassen.

Eine Grafik, die die Definition eines Reallabors verbildlicht. In der Mitte steht "Reallabore", davon zweigen verschiedene Begriffe mit passenden Symbolen ab. Beispielsweise "langfristig", symbolisiert mit einer Uhr oder "Laborcharakter", symbolisiert mit einem Mikroskop.
Charakteristika eines Reallabors
(Bild: nach Parodi et al. 2016, Forschungsgruppe Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Transformation ITAS/KIT)

Im Folgenden werfen wir einen Blick auf einige dieser Aspekte:

Transformativität: Reallabore haben das Ziel, nachhaltige Entwicklung voran zu bringen. Dafür betreiben sie transformative Forschung, das heißt, sie beobachten nicht nur, sondern werden auch selbst aktiv. Sie sind „Hybride“, die zugleich auf wissenschaftliche Erkenntnisse und gesellschaftliche Ge­staltung abzielen.

Transdisziplinarität und zivilgesellschaftliche Orientierung: Reallabore arbeiten transdisziplinär, das heißt ,mit Partner:innen aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen genauso wie mit Bürger:innen und weiteren Akteuren aus der Praxis. Die Beteiligung der Zivilgesellschaft ist fixer Bestandteil eines Reallabors. Diese Zusammenarbeit findet auf Augenhöhe statt und eine verständliche (Wissenschafts-)Kommunikation ist dabei unerlässlich. Die Projekte im Reallabor orientieren sich dabei stets an den Bedürfnissen und dem Lebensalltag der Menschen.

Modellcharakter: Reallabore wollen Modellcharakter für andere Städte und Regionen haben. Ihre Experimente und Erkenntnisse sollen in andere räumliche oder gesellschaftliche Kontexte übertragbar sein. Da viele Gegebenheiten lokalspezifisch sind, müssen Formate jedoch immer an die Bedingungen vor Ort angepasst werden. 

Langfristige Labore: Reallabore sind langfristig angelegt, mit einem Zeithorizont von (vielen) Jahrzehnten. Sie sollen eine stabile „transdisziplinäre Infrastruktur“ in einer sich rasch wandelnden Zeit sein. Reallabore bieten Unterstützung vor Ort und einen zuverlässigen Rahmen, in dem in realweltlichen Kontexten experimentiert und geforscht werden kann.

Autorin

Helena Trenks

Bild: privat

Akademische Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Transformation am ITAS. Seit 2015 im Reallabor Quartier Zukunft – Labor Stadt aktiv.

„Was ist ein Reallabor?“ Ein Film von Quartier Zukunft — Labor Stadt & Energietransformation im Dialog, ITAS/ KIT

Fazit – mit Reallaboren gemeinsam den Weg in eine nachhaltige Zukunft finden

Die Arbeit im Reallabor ist bunt und vielfältig. Das wird spätestens dann klar, wenn man einen Blick auf die Reallabore wirft, die in den vergangenen Jahren in Deutschland und darüber hinaus entstanden sind. Doch auch Vorsicht ist geboten, damit dieses neue Forschungsformat nicht inflationär als „Mode-Etikett“ genutzt wird und seinen Nachhaltigkeitsbezug und partizipativen Charakter verliert!

Im Quartier Zukunft sind wir überzeugt, dass Wissenschaft und Gesellschaft den Weg in eine gute, nachhaltige Zukunft gemeinsam erproben müssen, um die aktuellen Herausforderungen zu meistern. In Reallaboren findet sich ein vielversprechendes Format, nachhaltige Lebensweisen anzustoßen und zu unterstützen – und, wo möglich, bereits zu leben!

 

Zum Weiterlesen:

TATuP Vol 25 No. 3 (2016): Reallabore als Orte der Nachhaltigkeitsforschung und Transformation

Empfehlungen für die Förderung und den Aufbau von Reallaboren – Ein Positionspapier der BaWü-Labs

Netzwerk „Reallabore der Nachhaltigkeit“

Podcast Labor Zukunft – Forschung ohne Kittel, ein Podcast von Quartier Zukunft und dem Campusradio Karlsruhe

Leporello: „Wie Nachhaltigkeit möglich ist“