Reallabore für eine nachhaltige Zukunft

Eine Transformation unserer Gesellschaft in Richtung Nachhaltigkeit ist dringend notwendig. Aber wie fangen wir damit an? Und welche Rolle kann die Wissenschaft bei diesem Transformationsprozess spielen?
Eine Postkarte mit der Aufschrift "Mach mit!" ist an einen Metallzaun gebunden. Darunter steht "Gestalte deine, unsere Zukunft." Das KIT ist darauf gezeichnet.Forschungsgruppe Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Transformation/ITAS

Unsere Gesellschaft steht aktuell vor einem Wendepunkt. Unsere Lebensweise hat sich als nicht nachhaltig erwiesen und zu Klimawandel, Artensterben, sozialen Ungleichheiten und vielen weiteren Herausforderungen geführt, die unser bisheriges Lebenskonzept in Frage stellen und ein (rasches) Umdenken und Handeln erfordern. Um unsere Lebensgrundlage zu bewahren, fordern Wissenschaftler:innen, NGOs und seit einigen Jahren lautstark die Fridays for future-Bewegung alternative, nachhaltige Lebens-, Arbeits- und Wirtschaftsformen für unsere Gesellschaft.

Aber wie fangen wir mit solchen Veränderungen an? Und wie können wir möglichst viele Leute mitnehmen? Genau hier setzen sogenannte „Reallabore“ an. Reallabore bieten einen lokalen Rahmen, in dem nachhaltige Ideen entwickelt, im Alltag erprobt und umgesetzt werden können. Dabei geht es nicht um Forschung in einem geschlossenen Laboratorium mit kontrollierten Bedingungen, sondern darum, einen Raum mittendrin im wirklichen (‚realen‘) Leben zu schaffen, in dem Neues ausprobiert werden kann. Anhand von realen Problemen vor Ort werden gemeinsam mit der Bürgerschaft praktische Lösungen entwickelt, die danach Vorbild für andere Orte sein sollen. So möchten Reallabore ihren Beitrag zu einer „großen Transformation“ der Gesellschaft leisten.

Reallabor – was ist das?

Reallabore wollen die Lücke zwischen Wissen und Handeln schließen. Ein Reallabor ist eine Forschungs- und Entwicklungseinrichtung, die transdisziplinär arbeitet. Das heißt, Wissenschaft und Gesellschaft arbeiten gemeinsam an zukunftsfähigen Lösungen. Hochschulen, Kommunen, Vereine, Verbände und viele mehr schließen sich unter dem Leitbild Nachhaltiger Entwicklung in Reallaboren zusammen, um in unterschiedlichen Projekten praktisch zu erproben und zu erforschen, wie es anders gehen kann. Alle übernehmen Verantwortung für die kommenden Generationen und wollen eine nachhaltige Zukunft mitgestalten.

„Reallabore“ und „Reallaborforschung“ sind noch junge Konzepte und stehen in der Tradition der Aktions-und Interventionsforschung. Planen, Handeln, Beobachten und Reflektieren sind wesentliche Schritte, die in jedem Reallabor immer wieder zum Einsatz kommen. Zudem steht das Durchführen im Fokus und Reallabore schaffen Raum für Experimente. Sie bieten einen Rahmen, um gemeinsam ein gutes Leben zu erproben und zu erforschen. Oberstes Ziel ist, die Entwicklung nachhaltiger Lebens-und Wirtschaftsweisen anzustoßen und zu unterstützen.

Mit dem „Quartier Zukunft – Labor Stadt“ gibt es in der Karlsruher Oststadt ein solches Nachhaltigkeits-Reallabor der ersten Stunde.

Das Karlsruher Reallabor Quartier Zukunft

Im Jahr 2012 begann sich am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) des KIT eine interdisziplinär ausgerichtete, junge Gruppe von Forscher:innen rund um den Nachhaltigkeitsforscher und Projektleiter Dr. Oliver Parodi zu formieren und eines der ersten Reallabore in Deutschland, das „Quartier Zukunft – Labor Stadt“, ins Rollen zu bringen. Seit 2014 ist das Projekt in der Oststadt aktiv, seit 2015 gibt es den „Zukunftsraum für Nachhaltigkeit und Wissenschaft“, der Quartiersbüro, Wissenschaftsladen, Arbeitsort und Treffpunkt für Wissenschaftler:innen und aktive Bürger:innen in einem ist. Über die Jahre ist das Reallabor gewachsen und inzwischen auch über die Oststadt hinaus aktiv.

Der Zukunftsraum des Quartier Zukunft. Man sieht große Schaufenster, auf denen steht: Für Nachhaltigkeit & Wissenschaft.
Der Zukunftsraum für Nachhaltigkeit und Wissenschaft.
(Bild: Forschungsgruppe Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Transformation/ITAS)

Im Quartier Zukunft geht es um Inspiration, um Impulse für eine Nachhaltige Entwicklung und darum, eine dichte Nachhaltigkeit zu kreieren und zu beforschen. Hierzu führt das wissenschaftliche Team eine Vielzahl von Projekten und Nachhaltigkeitsexperimenten mit Bürger:innen, Wissenschaftler:innen und weiteren Akteuren gemeinsam durch. Die Aktivierung von Akteuren aus der Zivilgesellschaft und der Bürgerschaft zur Mitgestaltung der eigenen Lebenswelt ist im Quartier Zukunft zentral.

Drei Bilder nebeneinander. Sie zeigen verschiedene Formate im Reallabor, bei denen Menschen zusammensitzen und diskutieren.
Verschiedene Formate im Reallabor.
(Bild: Forschungsgruppe Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Transformation/ITAS)

Um diese Akteure zu erreichen, wird auf ein ‚exploratives Vorgehen‘ und einen Mix aus verschiedenen Formaten gesetzt. So finden niedrigschwellige Mitmach-Formate wie etwa Kleider- und Pflanzentauschbörsen, Diskussionsrunden und Workshops genauso ihren Platz wie Lehrveranstaltungen, wissenschaftlich begleitete Selbstexperimente oder inter- und transdisziplinäre Teilprojekte zu einzelnen Nachhaltigkeitsaspekten.

Aktivitäten im Reallabor Quartier Zukunft beispielhaft an vier Formaten dargestellt.
(Bild: Forschungsgruppe Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Transformation/ITAS)

Die Ergebnisse und Erkenntnisse, die aus diesen partizipativen Formaten gewonnen werden, stellen, verknüpft mit Themen der Nachhaltigkeitsforschung, die thematischen Mandate für die weitere Arbeit als Wissenschaftler:innen im Reallabor dar.

Versuch einer Definition und Charakterisierung - Was macht ein Reallabor aus?

Der Begriff Reallabor ist noch jung und um eine einheitliche Definition wird daher aktuell noch viel in der Wissenschaft diskutiert. Das Quartier Zukunft-Team hat im Zuge seiner transdisziplinären Arbeit folgende Definition eines Reallabors entwickelt: „Ein Reallabor bezeichnet eine transdisziplinäre Forschungs- und  Entwicklungseinrichtung,  um in einem räumlich abgegrenzten gesellschaftlichen Kontext Nachhaltigkeitsexperimente durchzuführen, um Transformationsprozesse anzustoßen und um entsprechende wissenschaftliche wie gesellschaftliche Lernprozesse zu verstetigen“ (Parodi et al. 2016, S.16).

Was zunächst abstrakt klingt, lässt sich anhand von neun Reallabor-Charakteristika konkreter fassen. Diese Charakteristika eines Reallabors sind in der untenstehenden Grafik dargestellt.

Eine Grafik, die die Definition eines Reallabors verbildlicht. In der Mitte steht "Reallabore", davon zweigen verschiedene Begriffe mit passenden Symbolen ab. Beispielsweise "langfristig", symbolisiert mit einer Uhr oder "Laborcharakter", symbolisiert mit einem Mikroskop.
Charakteristika eines Reallabors
(Bild: Quartier Zukunft/KIT)

Im Folgenden werfen wir einen Blick auf einige dieser Aspekte und sehen uns an, wie sie zu einer nachhaltigen Entwicklung im Reallabor beitragen können.

  • Transformativität: Reallabore sind mit dem Ziel angetreten, nachhaltige Entwicklung voran zu bringen. Um das zu erreichen, betreiben sie transformative Forschung, das heißt sie beobachten nicht nur, sondern werden auch selbst aktiv. Sie sind sozusagen „Hybride“, die zugleich auf wissenschaftliche Erkenntnisse und auf gesellschaftliche Ge­staltung abzielen. Sie ermöglichen Nachhaltigkeitsforschung und liefern gleichzeitig praktische Beiträge zu einer Nachhaltigen Entwicklung. Reallabore initiieren und beteiligen sich an lokalen Projekten und begleiten deren Aktivtäten forscherisch. Dabei bringen sie wissenschaftliches Know-How in den Alltag der Leute und machen es so nutzbar.
  • Transdisziplinarität und zivilgesellschaftliche Orientierung: Reallabore arbeiten transdisziplinär, das heißt mit Partner:innen aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen genauso wie mit Bürger:innen und weiteren Partner:innen aus der Praxis. Partizipation, also Beteiligung und Einbezug der Zivilgesellschaft, ist fixer Bestandteil eines Reallabors. Diese Zusammenarbeit findet auf Augenhöhe statt und eine verständliche (Wissenschafts-)Kommunikation ist dabei unerlässlich. Bürger:innen können im Reallabor alltägliche Stolpersteine und Hürden für eine nachhaltige Entwicklung aufzeigen und  gemeinsam mit den Wissenschaftler:innen an konkreten Lösungsvorschlägen arbeiten. Umgekehrt können wissenschaftliche Erkenntnisse auf ihre Praxistauglichkeit geprüft und die so gewonnen Ergebnisse werden wieder in die Wissenschaft zurückgespielt werden.

  • Modellcharakter: Reallabore wollen Modellcharakter für andere Städte und Regionen haben. Ihre Experimente und Erkenntnisse sollen in andere räumliche oder gesellschaftliche Kontexte übertragbar sein. So können sie auch über ihre geographischen Grenzen hinaus transformative Impulse in Richtung Nachhaltigkeit setzen. Da viele Gegebenheiten sehr lokalspezifisch sind, müssen Formate jedoch immer an die Bedingungen vor Ort angepasst werden. 

  • Langfristige Labore: Reallabore sind langfristig angelegt, mit einem Zeithorizont von (vielen) Jahrzehnten, denn Nachhaltige Entwicklung und Transformation braucht Zeit. Daher wollen sie eine stabile „transdisziplinäre Infrastruktur“ in einer sich rasch wandelnden Zeit sein. Reallabore bieten Unterstützung vor Ort und einen zuverlässigen Rahmen, in dem in realweltlichen Kontexten experimentiert und geforscht werden kann. Damit schaffen sie die Möglichkeit ‚out of the box‘ zu denken und zu handeln.

Hier bitte Kurzfilm „Was ist ein Reallabor“ einbinden: https://www.youtube.com/watch?v=mhQXeOnP9ZI

Fazit – mit Reallaboren gemeinsam den Weg in eine nachhaltige Zukunft finden

Die Arbeit im Reallabor ist bunt und vielfältig. Das wird spätestens dann klar, wenn man die verschiedenen Charakteristika betrachtet und einen Blick auf die Reallabore wirft, die in den vergangenen Jahren in Deutschland und darüber hinaus entstanden sind. Doch auch Vorsicht ist geboten, damit dieses neue Forschungsformat nicht inflationär als „Mode-Etikett“ genutzt wird und seinen Nachhaltigkeitsbezug und partizipativen Charakter verliert! In Karlsruhe wird das Quartier Zukunft des KIT diese Schwerpunkte hochhalten und seine Reallaborarbeit im Sinne der Nachhaltigkeit weiterführen.

Ich bin überzeugt, dass Wissenschaft und Gesellschaft den Weg in eine gute, nachhaltige Zukunft gemeinsam erproben müssen, um die aktuellen Herausforderungen meistern zu können. In Reallaboren finden wir ein vielversprechendes Format, nachhaltige Lebensweisen anzustoßen und zu unterstützen – und, wo möglich, bereits zu leben!

 

Zum Weiterlesen:

TATuP Vol 25 No. 3 (2016): Reallabore als Orte der Nachhaltigkeitsforschung und Transformation

Empfehlungen für die Förderung und den Aufbau von Reallaboren – Ein Positionspapier der BaWü-Labs

Netzwerk „Reallabore der Nachhaltigkeit“

Podcast Labor Zukunft – Forschung ohne Kittel, insbesondere Folge 1 : „Quartier Zukunft und Nachhaltigkeit“ und Folge 4: „Reallabore für eine nachhaltige Zukunft“

Leporello: „Wie Nachhaltigkeit möglich ist“

Textüberschrift

Video/Audio

„Was ist ein Reallabor?“ Ein Film von Quartier Zukunft — Labor Stadt & Energietransformation im Dialog, ITAS/ KIT