Drei Fragen an Dirk Hebel

Warum ist Ihre Forschung für die Zukunft relevant?

Im September 2020 stellte Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, in ihrer viel beachteten Rede abermals das Ziel der Etablierung einer vollständigen Kreislaufwirtschaft innerhalb der Europäischen Union (EU) vor, wie sie im Aktionsplan für eine Kreislaufwirtschaft im März des gleichen Jahres schon formuliert wurde. Explizit ging sie auf die Verantwortung des Bauwesens ein, das nach Angaben der Kommission aus dem Jahr 2019 für 50 % des Primärrohstoffverbrauchs und gleichzeitig für 36 % des Festmüllaufkommens innerhalb der Union verantwortlich ist. Der Grund ist in unserem gewohnten, linearen Denk- und Wirtschaftsmodell zu suchen: Rohstoffe werden aus den etablierten natürlichen Kreisläufen entnommen, daraus hergestellte Produkte und Güter werden verbraucht und anschließend entsorgt. Dieser nach wie vor dominierende lineare Ansatz hat tiefgreifende Konsequenzen für unseren Planeten. So verändern wir in gravierender Weise bestehende Ökosysteme. Sand, Kupfer, Zink oder Helium werden bald technisch, ökologisch und ökonomisch nicht mehr vertretbar aus natürlichen Quellen zu gewinnen sein. Im Gegensatz zu diesem linearen Konzept der Rohstoffzerstörung steht das von Frau von der Leyen eingeforderte Ziel, in geschlossenen, intelligent geplanten und mit Voraussicht entworfenen Materialkreisläufen zu operieren. Dies bedeutet ein Paradigmenwechsel in der Baupraxis. Wir müssen so konstruieren, dass alle verwenden Materialien und Bauteile auch zukünftigen Generation in gleicher Qualität zur Verfügung stehen.

Welches interdisziplinäre Projekt wird eine Zukunftsfrage lösen und warum?

Die Bunderepublik Deutschland gilt als rohstoffarmes Land. Auch deshalb importiert Deutschland jedes Jahr rund 642 Millionen Tonnen an Materialien. Die benötigte Rohstoffmenge hierfür ist jedoch wesentlich grösser, weil wir auch Halbzeuge und weiterverarbeitete Produkte (Güter) importieren, die einen wesentlich höheren Rohstoffverbrauch in den Produktionsländern haben als das fertige Produkt vermuten lässt - und zwar um den Faktor 2,5. Die direkte Materialnutzung der deutschen Wirtschaft liegt daher bei einer Masse von 1,3 Milliarden Tonnen unter Abzug der Exporte (Umweltbundesamt 2020). So geht das Umweltbundesamt der Bundesrepublik Deutschland davon aus, dass diese Masse an direkter Materialnutzung in Deutschland jährlich einem Würfel aus Beton entspricht mit der Kantenlänge von 800 Metern. Dieses Bauwerk ist mit Abstand das höchste Gebäude Deutschlands und verdrängt das bisherige – den Berliner Fernsehturm mit 368m - chancenlos auf Platz zwei. Und zwar jedes Jahr aufs Neue.

Demgegenüber steht ein Berg von Abfall in Deutschland, der nicht minder imposant ist: so entsprach das Brutto-Abfallaufkommen im Jahr 2017 in Deutschland rund 412 Millionen Tonnen (Umweltbundesamt 2020). Dies ist gleichbedeutend mit der Tatsache, dass wir jährlich einen immensen physischen Zuwachs erleben und einen Materialstrom von 1,7 Milliarden Tonnen organisieren. Bau und Abbruchabfälle (einschließlich Straßenaufbruch) machten im gleichen Jahr mit 220,3 Millionen Tonnen 53,4 % des Brutto Abfallaufkommens aus, wobei der Bodenaushub als Löwenanteil mit 85 % zu Buche schlägt.

Die Zahlen lassen vermuten, dass wir einerseits seit Jahrzehnten ein unfassbar großes anthropogenes Materiallager in Deutschland aufbauen und andererseits kein rohstoffarmes Land sind, wenn wir dieses gigantische Materiallager nutzen könnten. Wir müssen Ideen entwickeln, dies zu tun. Hier liegt das gesellschaftliche, interdisziplinäre Projekt, diese Innovationen voranzubringen.

Mit welcher anderen Disziplin würden Sie gerne mal zusammenarbeiten, selbst wenn das in Ihrem Bereich ungewöhnlich wäre, und welche Forschungsfrage würden Sie mit dieser Disziplin gerne bearbeiten?

Mein Team beheimatet schon Materialwissenschaftler:innen, Biolog:innen, Bauingenieur:innen und Architekt:innen, insofern sind wir diese Schritte schon gegangen um neuartige Baumaterialien zu entwickeln, wie zum Beispiel in unserer Forschung zu Pilzmycelium.

Wir danken Dirk Hebel herzlich für das Gespräch. Sollten Sie ebenso an zukunftsrelevanten interdisziplinären Themen arbeiten, laden wir Sie dazu ein, mit uns Kontakt aufzunehmen. Wir würden auch gerne Ihre Perspektive an dieser Stelle sichtbar machen und unser Netzwerk erweitern. Schreiben Sie einfach eine Mail an: judith mueller∂kit edu.

Gesprächspartner

Prof. Dirk E. Hebel

Portraitfoto Dirk Hebel

Dirk Hebel ist Professor für Nachhaltiges Bauen an der Architekturfakultät des KIT.